Im Mai 2019 wurde das internationale Einheitensystem auf ein neues Fundament gesetzt. Anstatt alle Massen durch Vergleich mit dem Urkilogramm in Paris zu bestimmen, sind seither die unveränderlichen Quanteneigenschaften der Welt das Maß der Dinge. Zuvor war dies schon sehr anschaulich für die Zeiteinheit und die Längeneinheit gelungen: Die Sekunde ist ein Vielfaches einer Schwingungsdauer von bestimmten Photonen, die mit Cäsium produziert werden können. Die Länge hängt über die Lichtgeschwindigkeit, die eine Naturkonstante ist, mit der Zeit zusammen. Dadurch ist der Meter so festgelegt, dass das Licht im Vakuum in einer Sekunde exakt 299 792 458 Meter zurücklegt. Die Länge einer Strecke wird ganz einfach gemessen, indem man die Zeit bestimmt, in der das Licht die Strecke zurücklegt.
Zur Definition der Masseneinheit dient ebenfalls eine Größe, die vorher lediglich ein Messwert war, seit Mai 2019 aber als Naturkonstante festgelegt wurde: das Plancksche Wirkungsquantum. Der Wert dieser Grundeinheit der Quantenwelt ist seit Mai 2019 auf den exakten Wert von 6,626 070 15×10-34 kg m2/s festgelegt. Da der Meter und die Sekunde ebenso als exakte Werte festgeschrieben sind, folgt daraus, dass auch das Kilogramm exakt und ohne Messfehler feststeht. Wie man mit dieser Vorschrift aber eine bestimmte Menge Mehl oder die genaue Dosis eines Medikaments auswiegt, ist nicht unmittelbar klar.
Die Kibble-Waage am US-Amerikanischen Institut NIST, das der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt in Deutschland entspricht. Am oberen Bildrand sieht man die große Vakuumglocke, die sich während des Betriebs hinabsenkt, damit die Messung im Vakuum stattfinden kann. Die genaue Funktionsweise der Kibble- oder Watt-Waage ist weiter unten anhand eines Schemas erklärt.
Mit einigem Aufwand lässt sich unter Nutzung der Naturkonstanten für die Lichtgeschwindigkeit und das Wirkungsquantum ein Gerät herstellen: die Kibble-Waage (früher „Watt-Waage“), die das Plancksche Wirkungsquantum mit dem Kilogramm in Beziehung setzt. Eine zentrale Rolle spielt darin der Quanten-Hall-Effekt, für dessen Entdeckung der deutsche Physiker Klaus von Klitzing den Physik-Nobelpreis im Jahr 1985 erhielt. Bekannt war bis dahin bereits der einfache Hall-Effekt: Ein elektrischer Strom in einem Magnetfeld erzeugt eine elektrische Spannung senkrecht zur Stromrichtung, wobei diese „induzierte“ Spannung umso stärker ist, je stärker Strom- und Magnetfeld sind – und auch das Material spielt eine Rolle.
Von Klitzing entdeckte, dass bei ganz niedrigen Temperaturen nahe am absoluten Nullpunkt und bei sehr starken Magnetfeldern nur noch feste Spannungsstufen vorkommen – und die Materialabhängigkeit verschwindet. Nur die Ladung des Elektrons und das Planksche Wirkungsquantum bestimmen die Größe der Stufen. Eine Zeit lang wurde Plancks Konstante auch genau so gemessen: aus dem Vergleich einer Kraft, die durch Induktion auf einen Strom von Elektronen wirkt, mit der Schwerkraft einer Testmasse. Da der Wert des Planckschen Wirkungsquantums aber nun als Naturkonstante festgelegt ist, lässt sich jetzt umgekehrt mit der gleichen Messung eine Testmasse mit höchster Genauigkeit bestimmen.
Funktionsweise der Kibble- oder Watt-Waage: Zunächst wird in einem radialen Magnetfeld Strom (I) durch eine Spule geschickt (statische Phase). Dadurch entsteht eine elektromagnetische Kraft nach unten, die der Gewichtskraft der Masse entgegenwirkt.
Während der dynamischen Phase bewegt sich die Spule durch ein Magnetfeld. Dadurch wird eine Spannung U induziert. Aus diesen beiden Experimenten erhält man zwei Gleichungen, die sich so kombinieren lassen, dass man schließlich eine elektrische und eine mechanische Leistung vergleichen kann. Wendet man diese Vorgehensweise nun noch auf den Quanten-Hall-Effekt an, erhält man eine Leistung, die proportional zum Planckschen Wirkungsquantum ist.
Auf Basis solcher Testmassen wird dann wie bisher im Alltag gearbeitet. Letztlich ist jede Wägung ein direkter (Balkenwaage) oder indirekter (Briefwaage mit Kraftsensoren) Vergleich mit geeichten Testmassen. Besonders präzise Testmassen hat die Physikalisch-Technische Bundesanstalt (PTB) gemeinsam mit Partnerinstituten als hochreine Siliziumkugeln hergestellt – allerdings nicht mit der Kibble-Waage, sondern durch Abzählen der Atome mithilfe der Röntgenstrukturuntersuchung und anderer Verfahren. Diese Testmassen dienen den nationalen Metrologie-Instituten als Basis für praktische Massenkalibrierungen. Und diese haben ihren Preis: Eine dieser ein Kilogramm so exakt wie möglich wiegenden Kugeln hat einen Wert von rund einer Million Euro!
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